Monteverdis berühmte „Marienvesper“ diente als programmatische Idee für die Konzeption des Jahreskonzerts 2014 des Bayerischen Landesjugendchores. Prof. Gerd Guglhör, der an der Musikhochschule München Chorleitung und Stimmphysiologie unterrichtet, studierte mit seinen jungen Sängerinnen und Sängern Psalmenvertonungen heutiger Komponisten wie Javier Busto, Ola Gjelo, Franz M. Herzog und Wolfram Buchenberg ein. Werke von Michael Ostrzyga und Sebastian Schwab kommen zur Uraufführung. „Die nicht versiegende Aussagekraft dieser Psalmen motiviert und inspiriert Komponisten bis heute“, beschreibt Guglhör die ungebrochene Faszination der Texte. „Die Vertonungen der heutigen Zeit generieren aus den alten Texten großes Chortheater mit allen Varianten der Besetzung vom Solo bis zum Dialog von Frauen – und Männerchor. Undurchschaubare Vielstimmigkeit kontrastiert mit schlichten Melodiebewegungen, unzählig differenzierte Ereignisse bilden die affektstarken Psalmentexte ab.“
„Novae Vesperi Beatae Mariae Virginis“
Notizen zum Programm 2014 von Gerd Guglhör
Ob nun Monteverdis Marienvesper als erstes Oratorium der Musikgeschichte bezeichnet werden darf – darüber diskutieren Musikwissenschaftler immer noch. Jedenfalls offeriert das Werk im ureigentlichen Sinn der Wortbedeutung „Komposition“ eine Zusammenstellung aussagekräftiger Psalmtexte in genialen Vertonungen mit unzählig differenzierten Variablen. Der Programmkonzeption „novae vesperae beatae Mariae virginis“ dient die von Monteverdi getroffene Auswahl und Reihenfolge an affektstarken Psalmen als bindendes Vorbild.
Die nicht versiegende Aussagekraft dieser Psalmen motiviert und inspiriert Komponisten bis heute.
Monteverdis „Vesperae“ wie auch sein „Orfeo“ beginnen mit einer Repräsentationsmusik, die er für den Fürstenhof der Gonzaga ähnlich einer „Eurovisionsmelodie“ mit Power Point Wirkung konzipiert hatte. Diese Art Ouvertüre besticht durch leicht wiedererkennbare, quirlige und virtuos instrumentale Fanfarenmotive, die sich im Eröffnungsstück „Deus in adjutorium“ über den statischen Rezitationsblöcken des Chores erheben und diese gleichzeitig vitalisieren. Ostrzyga greift diese Idee in seiner Version teilweise auf, modifiziert sie aber gleichzeitig in die Möglichkeiten des a-cappella Ensembles: so ruht die Rezitation der jeden Psalm beschließenden Doxologie (Gloria patri...) einerseits auf klaren und unerschütterlichen harmonischen Säulen im Wechsel mit virtuosem und instrumental geprägtem Laufwerk, das in höchste vokale Registergrenzen strebt. Die Kernaussage „Eile, Gott, mich zu erretten“ kontrastiert dazu im Mittelteil als inniges Gebet, die Bitten vieler Gläubiger werden in raffinierten rhythmischen Überlagerungen vereint.
Der wirkungsvolle Eröffnungscharakter dieser Komposition zielt unmittelbar auf den nun folgenden Psalm „Dixit“, dessen semantische und affektive Kraft Ostrzyga aus dem harmonischen Spannungsfeld von Es –Dur und H-Dur entwickelt. Der ständige rhythmische Wechsel aller möglichen Taktarten in unsymmetrischen Kombinationen ist immer einem natürlichen Sprachfluss verpflichtet, die Sprache muss sich nicht einem Taktdiktat beugen. So entsteht aus der engagierten Erregtheit eines Sprechers (Chor) eine zwingende Rhetorik, die auf wuchtigen harmonischen Säulen hohe emotionale Kräfte freisetzt.
Ein Wandel aller Mittel, der bei Monteverdis Marienvesper nach den ersten beiden Psalmvertonungen im solistischen „Nigra sum“ eine starke Kontrastwirkung hervorruft findet nun auch in unserem Programm statt. Sebastian Schwab beginnt seine Darstellung aus dem „Hohen Lied der Liebe“ mit visionärer Zartheit, spätromantische Melodie- und Harmoniebewegungen werden dem erotischen Inhalt mit edler Ästhetik gerecht. Im später ebenfalls von Schwab erklingenden „Nisi Dominus“ geben dann mehr und mehr eruptive und häufig kontrastierende Kompositionsmittel dem Textinhalt eine sich ständig erneuernde und bewegende Aussagekraft.
„Laudate Pueri“ von Javier Busto generiert großes Chortheater mit allen Varianten der Besetzung vom Solo bis zum Dialog von Frauen – und Männerchor. Die rhetorisch höchst direkte Tonsprache bedient sich sowohl aufheizender und draufgängerischer Rhythmik wie auch einer empfindsamen Lyrik.
Der norwegische Komponist und Jazzpianist Ola Gjelo legt seine Vertonung des „Tota pulchra es“ als feinsinniges, teilweise überschwängliches und fast romantisches Klanggemälde an, das die Makellosigkeit und unantastbare Schönheit der Jungfrau Maria abbilden möchte. Lyrisch schlichte Melodiebewegungen in flächig ästhetische Harmonik gebettet erzeugen eine meditative Ruhe und Kraft.
Das programmatische Konzept zieht nun zwei Parallelen zu den Renaissance – Komponisten Melchior Franck und Jakobus Gallus (Handl). In bildreicher Affektsprache trotz eingeengter harmonischer Mittel inszenieren sie einzelne Wörter und Inhalte von „Laetatus sum“ und „Duo Seraphim“ bereits im Blick auf die barocke wenn nicht bis in unsere Epoche. Im Vergleich der beiden Vertonungen „Duo Seraphim“ von Gallus und dem 1964 geborenen baltischen Komponisten Dubra sticht grundsätzlich die Kongruenz in der Wahl der Mittel heraus. Beide Kompositionen bedienen sich der Vielstimmigkeit (Gallus wählt die Doppelchörigkeit), um die vielen Zurufe der Engel mit akustischer Plastizität zur Wirkung zu bringen. Dubra spaltet den Chor aber nicht nur in solistische Darstellungen - ähnlich wie Monteverdi in der gleichnamigen Vertonung- auf, sondern erweitert die Klangkonstellationen um unzählig wirbelnde Einzelstimmen, eine akustische Fotographie eines Schwarms von Engeln im bühnenbildhaft angelegten Gewölbe einer prunkvollen Barockkirche.
Eine weitere Komposition des Kölner Komponisten Ostrzyga „Lauda Jerusalem“ bildet die Atmosphäre während eines Gebets in einer Moschee ab und bezieht sich auf orientalische Skalenmodelle, die ihre eigentümliche Farbpalette sowohl der Melodik als auch dem harmonischen Gewebe verleihen. Eine ausgeklügelte Rhythmik zerfließend in verhaltener Dynamik erwirkt dazu eine geheimnisvolle Verschleierung. Nach einer großen Steigerung gibt der zweite Teil der Komposition den Blick auf tief gebeugte Gläubige frei, die ihre Gebete in tiefsten Lagen individuell vor sich hinmurmeln und sich für gemeinsame Aussagen immer wieder aufrichten, bevor in einer Art Coda die ursprüngliche Stimmung wieder aufgegriffen wird.
In Ave Maris Stella wird die Gottesmutter als Stern des Meeres verehrt. Dies hat seine Wurzeln wahrscheinlich in der Götterverherrlichung in vorchristlicher Zeit. Die aufgehende Sonne mit ihrer Spiegelung erst in zarten changierenden Farbspielen in der Wellenbewegung des Meeres bis zum majestätischen Erscheinen des allzeit verherrlichten Planeten verleiht der Komposition Franz Herzogs den klanglich ästhetischen Rahmen. So umspielen durchlaufende Sechszehntelbewegungen mit nur einem Wechselton in ständig variierten Stimm-kombinationen gregorianische Wendungen der ursprünglichen Psalmodie. Inständige Gebetsformeln des Frauenchores erklingen über magische Obertongebilde des Männerchores. Nach einem mikropolyphonen Kanon der Männerstimmen weicht die Komposition in die mittelalterliche Mehrstimmigkeit mit der entsprechenden gregorianischen Vorlage aus, bevor sie in der abschließenden Coda die Idee des ersten Teils aufgreift und die Wellenbewegung noch zielbewusster mit dem gregorianischen Material verknüpft und zu einem großen Höhepunkt führt.
Buchenbergs Magnificat hat mit der vorausgehenden Komposition die Verpflichtung gegenüber dem gregorianischen Vorbild gemeinsam. Während der vierstimmige Männerchor aus tiefen Lagen aufsteigend den Text rezitiert, singen alle Frauenstimmen solistisch und in individuellen Tempi die gregorianischen Melodiefloskeln. Daraus entsteht immer wieder ein flirrender Gesamtklang, der sich schließlich harmonisch weit gespannt in homophoner Rhetorik entlädt. Nach einem leise und von allen Frauen gesprochenen Abschnitt über erst verhaltener und an Intensität mehr und mehr zunehmender Männerchorrezitation entwickelt das Werk eine soghafte Steigerung, die ihren Höhepunkt in der metrisch frei zu gestaltenden Doxologie „Gloria patri“ hat und so den Bogen zum eröffnenden Stück unserer „Novae Vesperi Mariae Virginis“ schließt.