Von Prof. Dr. Hans Maier
In der Antike war die Orgel vorzugsweise heimisch in Palästen. Sie war ein herrscherliches Instrument. Ihr Klang wurde zu den sinnlichsten Genüssen gerechnet. Wie kam dieses höchst weltliche Instrument in die christlichen Kirchen? Wie fand es Eingang in den Gottesdienst, die Liturgie?
Um 1300 wiesen fast alle größeren Kirchen im Abendland Orgeln auf. Räumliche Schwerpunkte bildeten Nordfrankreich, Holland, das Elsass, die Küsten an Nord- und Ostsee, der Westen, Süden und die Mitte Deutschlands, Gebiete, in denen bis heute die größte „Orgeldichte“ herrscht.
Mit der Ausbreitung des Christentums im Osten und Südosten Europas gelangte die Orgel auch nach Polen-Litauen, in die baltischen Länder und in Teile des Balkans. Die orthodoxen Länder erwiesen sich jedoch - bis heute - als eine unüberwindbare Grenze für das Instrument. Denn in der Orthodoxie gilt nach wie vor das frühchristliche Verbot der Instrumente und der Mehrstimmigkeit, das im Westen während des Mittelalters schrittweise gelockert und schließlich aufgegeben wurde. Einstimmigkeit war dort streng geboten. Musik sollte nur ein melodischer Rahmen sein für den Gesang des Zelebranten. Für Musikinstrumente, gar für eine Orgel, die im Zweifel alles übertönen kann, war da kein Platz.
Nicht die Orgel, sondern den Gemeindegesang stellten die Begründer der evangelischen Kirche in den Mittelpunkt geistlicher Musik. Mitte des 17. Jahrhunderts legten Dietrich Buxtehude und Franz Tunder mit Abendmusiken in der St. Marienkirche in Lübeck den Grundstock für den Typus „Konzerte außerhalb von Gottesdiensten“. Nach dem zweiten Weltkrieg mit der Schaffung des hauptamtlichen Kantors erfuhr diese Form einen enormen Auftrieb als eigenständige Konzertform und als Forum für Festivals. Dazu zählt das 1951 gegründete Nürnberger Musikfest, die Internationale Orgelwoche (ION), ausgerichtet in den großen evangelischen Altstadt-Kirchen in Nürnberg, St. Lorenz und St. Sebald. Im Bild: Die Orgel von St. Lorenz, mit 12.156 Pfeifen die größte evangelische Kirchenorgel in Deutschland. Foto: »» lorenzkirche.de
Der Calvinismus als die weltweit erfolgreichste Reformationsrichtung schloss die Musik grundsätzlich aus den Kirchen aus. Die Orgel galt in den Ländern reformierter Konfession als eine „unerbauliche Papstleier“, ja als „des Teufels Sackpfeife“, so Urteile aus der reformierten Schweiz. Erst im 19. Jahrhundert wurde die Orgel auch im reformierten Europa wieder an vielen Stellen zu einem nicht nur geduldeten, sondern anerkannten Instrument der Kirche.
Von der Wittenberger Reformation, dem Luthertum, kam - nach anfänglichem Widerstand - die stärkste Unterstützung für die kirchliche Entfaltung der Orgelmusik. Von daher erklärt sich das „goldene Zeitalter“ der Orgelmusik, das im 17. Jahrhundert in Nord- und Mitteldeutschland begann und das seine Krönung im Werk Johann Sebastian Bachs fand.
In ihren Schriften „Zurück zur wahren Orgel“ und „Die Orgel der Zukunft“ setzten Albert Schweitzer und der Straßburger Organist Èmile Rupp eine Entwicklung im Orgelbau in Gang, die unter dem Begriff „Orgelbewegung“ im 20. Jahrhundert unter anderem zur Rückkehr zur mechanischen Spieltraktur sowie zur Orientierung an den Bau- und Klangprinzipien des klassischen Orgelbaus führte. Von diesen Auffassungen geprägt baute der Architekt, Orgelsachverständiger und Denkmalpfleger Walter Supper um 1936 eine Hausorgel, die als Leihgabe im Orgelmuseum Schloss Haunstein zu bewundern ist. Foto: www.orgelbaumuseum.de
Musikalisch gehört die Orgel zum Genuss der Tasteninstrumente. Das Wort „Clavier“ bezeichnet ja ursprünglich nicht nur das Klavier im heutigen Sinn, es schließt alle Instrumente ein, die durch „Claves“, Tasten bewegt werden, mithin auch die Orgel.
Der Aufstieg der Tasteninstrumente seit dem 15. Jahrhundert ist eng mit der Entwicklung der Mehrstimmigkeit verbunden. Je mehr diese den Gang der Musik bestimmt, desto mehr wachsen auch die Chancen der Tasteninstrumente, der „Claviere“. Denn diese erlauben es, viele Stimmen auf einem einzigen Instrument zu vereinigen – was Streich- und Blasinstrumente nicht in gleicher Weise vermögen. Diese sind, um Mehrstimmigkeit zu erreichen, auf eine Mehrzahl von Spielern oder Sängern, also auf Ensemblebildung angewiesen. Beim Tasteninstrument jedoch steht einem einzigen Spieler ein gewaltig erweitertes Tonmaterial zur Verfügung: „die achtundachtzig Saiten des Klaviers gegenüber den vier Saiten der Geige, die Hunderte und Tausende von Pfeifen der Orgel gegenüber der einen Pfeife der Oboe“ (Willi Apel).
Der Tastenspieler kann einen ganzen Chor, ein ganzes Orchester nachahmen. Darin, und im leichten Zugriff der Hand, liegt wohl der Grund für die bis heute anhaltende Popularität des Klaviers. Für die Orgel gilt vice versa Ähnliches. Nicht umsonst wurden schon im 16. Jahrhundert die Tasteninstrumente von den Italienern als „istromenti perfetti“ bezeichnet.
Einst waren es Dietrich Buxtehude und Johann Sebastian Bach, heute ist es Cameron Carpenter - ein Superstar an der Orgel. Mit technischer und musikalischer Meisterschaft setzt er sich über kulturelle und klassische Tabus hinweg und erschafft ein neues Bild des Orgelvirtuosen im 21. Jahrhundert. Foto: www.konserthuset.se
Die Geschichte der Orgel ist - wie vieles im Ablauf von Religion und Kultur - die Geschichte einer Aneignung. Ein profanes heidnisch-antikes Instrument wandert unter ständiger Entwicklung und Umwandlung in die Mitte der christlichen Kirche und ihrer Liturgie. Die Aneignung brauchte Jahrhunderte und vollzog sich nicht ohne gravierende Widerstände. Die Orgel wurde zum gottesdienstlichen Instrument schlechthin, zum Ursprung einer Fülle kirchenmusikalischer Schöpfungen. Das reicht bis zum heutigen Tag und ist ein Beispiel für die anregende Kraft der Liturgie. Am gottesdienstlichen „Regelwerk“ der Liturgik lernt die Kirchenmusik, sich zu bewegen und aufzurichten, manchmal auch „in Ketten zu tanzen“ (Nietzsche).
In St. Petri Kyrka in Malmö steht eine der modernsten Orgelanlagen der Welt, erstellt von einem schwedisch-deutschen Projektteam. Die Registersteuerung wird von einem fahrbaren Generalspieltisch aus über zwei große Touch-Bildschirme gelenkt. Foto: www.orgelbau-klais.com
Auch wenn die Orgel heute nicht mehr ein ausschließlich kirchliches Instrument ist, wenn längst Konzertorgeln, Kinoorgeln und eine Fülle elektronischer Klangerzeuger neben die Kirchenorgeln getreten sind, so prägt doch die kirchliche Vergangenheit der Orgel samt der Fülle und Bedeutung der ihr gewidmeten Literatur auch die Gegenwart dieses Instruments. Das zeigt jeder von der Orgel begleitete Gottesdienst, aber auch jedes Orgelkonzert, sei es im geistlichen, sei es im weltlichen Rahmen. Insofern ist die Orgel alles andere als ein historisches Instrument. Von ihr gehen auch in der Gegenwart wichtige musikalische Impulse aus. Stärker als andere Instrumente lebt sie vom unmittelbaren Zugriff und von der Improvisationskunst ihrer Spieler. Ihrer Literatur kommt eine hohe allgemeinmusikalische Anregungskraft zu (Ostinato-Techniken, Variationenfolgen, Einwürfe, Fugatos). Damit bewahrt sie sich die Fähigkeit, lebendig und unberechenbar zu bleiben, und kann ihre künstlerische Vergangenheit auch in die Zukunft mitnehmen.
Red.: Christiane Franke
Der Autor Hans Maier hat 2016 im Verlag C.H.Beck eine Geschichte der Orgel in sieben Kapiteln verfasst. Hierbei beleuchtet er die Orgel hinsichtlich der Spielweise, der Register und des daraus resultierenden Klangs, die Orgel als Baukunstwerk, die Entwicklung des Orgelspiels, die Orgel in der Literatur sowie Komponisten und Werke für die Orgel.